04.09.2016

VOM ERNST DER NACHFOLGE

nach Maria Valtorta

Die Tempelmauern sind erreicht. Jesus gibt Iskariot und Simon dem Zeloten Anweisungen für den Kauf der liturgischen Opfergaben. Dann ruft er den Priester Johannes zu sich und sagt: »Du, der du von hier bist, lade einige Leviten ein, von denen du weißt, dass sie würdig sind, die Wahrheit kennenzulernen; denn dieses Jahr kann ich wahrlich ein Fest der

Freude feiern. Nie mehr wird ein Tag so herrlich sein . . . «

»Warum, Meister?« fragt der Schriftgelehrte Johannes.

»Weil ich euch alle um mich habe, entweder sichtbar gegenwärtig oder in eurem Geist.«

»Aber wir werden doch immer bei dir sein und mit uns viele andere!« versichert ungestüm der Apostel Johannes, dem

alle beistimmen.

Jesus lächelt und schweigt, während der Priester Johannes zusammen mit Stephanus in den Tempel vorausgeht, um

den Auftrag auszuführen. Jesus ruft ihnen nach: »Wir treffen uns im Vorhof der Heiden.«

Sie treten ein und begegnen sogleich Nikodemus, der eine tiefe Verbeugung macht, sich Jesus jedoch nicht nähert, sondern nur ein friedvolles Lächeln mit dem Meister tauscht.

Während die Frauen stehenbleiben, wo es ihnen erlaubt ist, begibt sich Jesus mit den Jüngern zum Gebet an den Ort

der Hebräer.

Nachdem alle Riten vollzogen sind, kommt er zurück, um mit den im Vorhof der Heiden Wartenden zusammenzutreffen.

Die sehr weiten und hohen Säulenhallen sind voller Menschen, die den Lesungen der Rabbis lauschen. Jesus begibt

sich dorthin, woer die beiden Apostel und die vorausgesandten Jünger warten sieht.

Sofort bildet sich eine Gruppe um ihn; zu den Aposteln und Jüngern gesellen sich zahlreiche Personen aus der Menschenmenge im marmornen Hof. Die Neugierde ist so groß, dass auch einige Schüler der Rabbis – ich weiß nicht,

ob freiwillig oder von ihren Meistern geschickt – sich der Gruppe um Jesus anschließen.

Jesus fragt ganz unvermittelt: »Warum drängt ihr euch so um mich? Sagt es. Ihr habt doch bekannte und weise Rabbis,

die ein großes Ansehen genießen. Ich bin der Unbekannte, der Unerwünschte. Warum kommt ihr also zu mir?«

»Weil wir dich lieben«, sagen einige, und andere: »Weil deine Worte anders sind als die der anderen«, und wieder andere: »Um deine Wunder zu sehen«, und: »Weil wir von dir gehört haben«, und: »Nur du allein hast Worte des ewigen Lebens,

und deine Werke entsprechen deinen Worten«, und schließlich: »Weil wir uns deinen Jüngern anschließen wollen.«

Jesus schaut jeden einzelnen Sprecher an, als wolle er ihn mit seinem Blick durchbohren, um seine verborgensten

Gefühle kennenzulernen, und mancher, der dem Blick nicht standhält, entfernt sich oder versteckt sich wenigstens

hinter einer Säule oder hinter Leuten, die größer sind als er. Jesus fährt fort:

»Aber wißt ihr auch, was es heißt und was es sein soll, mir nachzufolgen? Ich antworte nur auf diese Worte, denn die Neugierde verdient keine Antwort, und wer nach meinen Worten hungert, hat folglich auch Liebe zu mir und das

Verlangen, sich mir anzuschließen. Die Leute, die mit mir gesprochen haben, kann man in zwei Gruppen aufteilen: In

die der Neugierigen, denen ich keine Aufmerksamkeit schenke, und in die guten Willens, die ich ohne Täuschung über

das Ausmaß dieser Berufung unterrichte.

Mir als Jünger nachzufolgen will heißen, auf jede andere Liebe zu verzichten und nur eine einzige Liebe zu haben: die

Liebe zu mir.

Eigenliebe, sündige Liebe zu Reichtum, Sinnlichkeit oder Macht, ehrenhafte Gattenliebe, heilige Liebe zur Mutter und

zum Vater, natürliche Liebe zu den Kindern und den Geschwistern, all das muss meiner Liebe weichen, wenn einer mir angehören will. Wahrlich, ich sage euch: freier als die Vögel, die in den Lüften umherschweifen, müssen meine Jünger sein, und freier als die Winde, die am Firmament dahinziehen und von niemandem und von nichts aufgehalten werden können. Frei, ohne schwere Ketten, ohne die Bande irdischer Liebe, ohne die feinen Spinngewebe selbst der leichtesten Schranken.

Der Geist ist wie ein zarter Schmetterling, der im schweren Kokon des Fleisches eingeschlossen ist, und es genügt das schillernde, feine Gewebe einer Spinne, um seinen Flug zu erschweren oder ganz zu verhindern. Diese Spinne ist die Sinnlichkeit und die Trägheit im Opferbringen. Ich will alles, ohne Rückhalt. Der Geist bedarf dieser Freiheit im Geben, dieser Hochherzigkeit im Schenken, um die gewissheit zu haben, dass er nicht im Spinngewebe der Zuneigungen, der Gewohnheiten, der Erwägungen und der Befürchtungen hängenbleibt; im dichten Spinngewebe, das von der

riesenhaften Spinne, dem Seelenräuber Satan, gewoben wird.

Wenn einer zu mir kommen will und nicht heiligmäßig seinen Vater, seine Mutter, seine Gattin, seine Kinder, seine

Brüder und Schwestern, ja, sogar sein eigenes Leben haßt, kann er nicht mein Jünger sein. Ich habe gesagt:

„heiligmäßig“. Ihr sagt in eurem Herzen: „Haß kann nie heilig sein, er selbst lehrt es. Daher widerspricht er sich.“

Nein. Ich widerspreche mir nicht. Ich sage, man soll hassen, was die wahre Liebe beschwert: die leidenschaftliche, erdgebundene Liebe zu Vater und Mutter, zu Frau und Kindern, zu Brüdern und Schwestern und zum eigenen Leben. Andererseits verlange ich von euch, dass ihr eure Verwandten und das Leben mit der leichten Freiheit, die der Seele

eigen ist, liebt. Liebt sie in Gott und durch Gott, doch zieht sie niemals Gott vor, und seid darum bemüht, sie zu dem

Gott zu führen, bei dem der Jünger schon ist, zum Gott der Wahrheit. So werdet ihr die Verwandten und Gott

heiligmäßig lieben, die beiden Arten der Liebe miteinander versöhnen, und die Bande des Blutes nicht zur Last,

sondern zu Flügeln, nicht zur Schuld, sondern zur Gerechtigkeit werden lassen. Ihr sollt auch bereit sein, euer Leben

zu hassen, um mir zu folgen. Derjenige haßt sein Leben, der es in meinen Dienst stellt und nicht fürchtet, es zu

verlieren oder, menschlich gesprochen, es traurig zu verbringen. Aber es ist nur ein scheinbarer Haß, ein Gefühl, das irrtümlicherweise Haß genannt wird von dem Menschen, der sich nicht über sein rein irdisches Dasein erheben kann

und nur wenig über dem Tier steht. In Wirklichkeit ist dieser scheinbare Haß, der im Verzicht auf sinnliche

Befriedigungen besteht, um den Geist besser gedeihen zu lassen, Liebe. Liebe, und zwar die höchste und

segensreichste Liebe, die es gibt.

Dieser Verzicht auf niedrige Genugtuungen und auf die Sinnlichkeit der Zuneigung, dieses Auf-sich-Nehmen von

Tadel und ungerechten Bemerkungen, diese Gefahr, bestraft, verschmäht, verflucht und vielleicht sogar verfolgt zu

werden, bedeuten eine Reihe von Qualen für uns. Aber man muss sie umarmen und sie auf sich nehmen wie ein Kreuz,

wie einen Schandpfahl, an dem man jede vergangene Schuld sühnt, um gerechtfertigt vor Gott zu erscheinen, von dem

wir jegliche Gnade, die wahre, mächtige heilige Gnade Gottes empfangen, auch für jene, die wir lieben. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein.

Überlegt es euch daher sehr gut, ihr, die ihr sagt: „Wir sind gekommen, um uns deinen Jüngern anzuschließen.“ Es ist

keine Schande, sondern Weisheit, wenn man sich prüft und dann sich selbst und den anderen bekennt: ich habe nicht

das Zeug, ein Jünger zu werden. Selbst die Heiden haben als Grundlage einer ihrer Lehren die Notwendigkeit, „sich

selbst zu erkennen“, und ihr Israeliten, wäret ihr dazu nicht fähig, um den Himmel zu erringen?

Denn, erinnert euch immer: selig jene, die zu mir kommen werden. Aber besser ist es, nicht zu kommen und Sohn des Gesetzes zu bleiben wie bisher, als mich und den, der mich gesandt hat, zu verraten.

Wehe denen, die gesagt haben: „Ich komme“, und dann Christus schaden, weil sie die christliche Lehre verraten, die

den Kleinen und den Guten Ärgernis geben! Wehe ihnen! Dennoch wird es sie geben, und immer wird es sie geben!

Macht es daher wie der Mensch, der einen Turm bauen will. Zu-rst berechnet er genau die Kosten und zählt sein Geld,

um zu sehen, ob er genügend hat, um ihn fertigzustellen; damit er, wenn die Grundmauern einmal beendet sind, nicht

die Arbeit einstellen muss, weil kein Geld mehr da ist. In diesem Fall würde er auch das verlieren, was er zuvor hatte,

ohne Turm und ohne Geld bleiben und sich noch dazu den Spott der Menschen zuziehen, die sagen würden:

„Dieser hier hat zu bauen angefangen, ohne fertigbauen zu können.Nun kann er sich den Bauch mit den Ruinen seines unvollendeten Bauwerkes füllen.“

Macht es auch wie die irdischen Könige und zieht aus den nichtigen Ereignissen dieser Welt eine übernatürliche Lehre. Wenn ein König Krieg gegen einen anderen König führen will, überlegt er alles, das Für und Wider ruhig und sorgfältig.

Er berechnet, ob derNutzen, den er von der Eroberung hat, das Lebensopfer seiner Untergebenen wert ist. Er prüft, ob

seine Streitkräfte, die zwar tapfer, aber auch geringer an Zahl als die des Gegners sind, einen Ort erobern können; und wenn ein König sich eingestehen muss, dass es unwahrscheinlich ist, dass zehntausend Mann zwanzigtausend besiegen, wird er, bevor er es zum Krieg kommen läßt, dem Gegner eine Gesandtschaft mit reichen Geschenken schicken, um ihn

zu besänftigen und den Verdacht zu beseitigen, den er durch seine Kriegsvorbereitungen erweckt hat. Er wird ihn mit Freundschaftsbezeugungen entwaffnen und einen Friedensvertrag mit ihm abschließen, der tatsächlich immer noch vorteilhafter ist als Krieg, sowohl in menschlicher als auch in geistiger Hinsicht.

So müßt auch ihr es machen, bevor ihr ein neues Leben beginnt und der Welt entgegentretet. Denn dies ist die Aufgabe meiner Jünger: Aufzutreten gegen die stürmischen und wilden Strömungen der Welt, des Fleisches und Satans. Wenn es euch an Mut fehlt, aus Liebe zu mir auf alles zu verzichten, dann kommt nicht zu mir, denn ihr könnt nicht meine Jünger sein.«