19.07.2016

VON DEN WAHREN VERWANDTEN JESU

nach Maria Valtorta

Ein Gemurmel, dass weder Billigung noch Protest ausdrückt, geht durch die Menschenmenge, die nun schon so zahlreich ist, dass sie sogar auf der Straße außerhalb des Gartens steht. Viele Menschen sitzen auf der Mauer, auf dem Feigenbaum des Gartens und auf den Bäumen der Nachbargärten; denn alle wollen den Disput zwischen Jesus und seinen Feinden hören. Das Gemurmel geht, wie eine Welle, die sich zum Strand wälzt, von Mund zu Mund bis zu den Aposteln, die Jesus am nächsten stehen. Es sind Petrus, Johannes, der Zelote und die Söhne des Alphäus; denn die anderen befinden sich teils auf der Terrasse, teils in der Küche. Nur Judas Iskariot hat sich unter die Menschen auf der Straße gemischt.

Und Petrus, Johannes, der Zelote und die Söhne des Alphäus greifen dieses Gemurmel auf und sagen zu Jesus: «Meister, deine Mutter und deine Brüder sind da. Sie sind auf der Straße und suchen dich, denn sie möchten mit dir reden. Gebiete den Leuten, Platz zu machen, damit sie zu dir gelangen können; denn sicher hat sie ein triftiger Grund veranlaßt, dich hier aufzusuchen.»

Jesus hebt das Haupt und sieht hinter der Menschenmenge das angsterfüllte Antlitz seiner Mutter, die gegen die Tränen ankämpft, während Joseph des Alphäus aufgeregt mit ihr spricht; er sieht, wie sie trotz des Drängens von Joseph immer wieder energisch Zeichen der Verneinung macht. Er sieht auch das verlegene Gesicht Simons, der sichtlich betrübt und angeekelt ist ... Aber Jesus lächelt nicht und gebietet nichts. Er läßt die Betrübte in ihrem Schmerz und die Vettern dort, wo sie sind.

Er richtet die Augen auf die Volksmenge, und indem er den Aposteln in seiner Nähe antwortet, antwortet er auch den weiter entfernt Stehenden, die versuchen, der Blutsverwandtschaft Vorrang gegenüber der Pflicht zu verschaffen.

«Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?»

Er läßt seinen Blick über die Menge schweifen, mit ernstem, bleichem Gesicht wegen der Gewalt, die er sich antun muss, um die Pflicht über die Gefühle und das Blut zu stellen, um seine Bindung an die Mutter zu verleugnen, um dem Vater zu dienen, und sagt, indem er mit einer ausladenden Geste auf die Menge weist, die sich im roten Schein der Fackeln und im silbernen Mondlicht um ihn drängt: «Hier ist meine Mutter, hier sind meine Brüder. Jene, die den Willen Gottes tun, sind meine Brüder, meine Schwestern und meine Mutter. Andere habe ich nicht. Auch die Meinen werden es sein, wenn sie als erste und mit größerer Vollkommenheit als die anderen den Willen Gottes erfüllen bis zur gänzlichen Aufopferung jedes anderen Willens oder der Stimme des Blutes und der Zuneigung.»

Das Stimmengewirr in der Menge wird lauter, wie ein von einem plötzlichen Wind gepeitschtes Meer.

Die Schriftgelehrten beginnen zu fliehen und sagen: «Er ist ein Dämon! Er verleugnet sogar sein eigenes Blut!»

Die Verwandten drängen sich vor und rufen: «Er ist wahnsinnig! Er quält sogar seine Mutter!»

Die Apostel sagen: «Wahrlich, in diesen Worten liegt sein ganzer Heroismus.»

Die Menge sagt: «Wie sehr er uns liebt!»

Mit Mühe bahnen sich Maria, Simon und Joseph einen Weg durch die Menge. Maria ist ganz Sanftmut, Joseph ganz Wut, Simon ganz verlegen. Sie gelangen zu Jesus.

Und Joseph stellt ihn sofort zur Rede: «Bist du wahnsinnig? Du beleidigst alle. Du hast nicht einmal Respekt vor deiner Mutter. Aber nun bin ich hier und will es dir verwehren. Ist es wahr, dass du als Arbeiter da- und dorthin ziehst? Wenn dies wahr ist, warum arbeitest du nicht in deiner Werkstatt, um deine Mutter zu ernähren? Warum lügst du und sagst, dass deine Arbeit die Verkündigung ist, du Müßiggänger und undankbarer Mensch, wenn du doch zur Lohnarbeit in ein fremdes Haus gehst? Wahrlich, du scheinst von einem Dämon besessen zu sein, der dich verführt. Antworte!»

Jesus wendet sich um und nimmt den Knaben Joseph bei der Hand, zieht ihn zu sich, greift ihm unter die Achseln, hebt ihn hoch und sagt: «Meine Arbeit war, dieses hungrige Kind und seine Angehörigen zu ernähren und sie davon zu überzeugen, dass Gott gut ist. In Chorazim habe ich auf diese Weise Liebe und Demut gepredigt. Und nicht nur in Chorazim. Das gilt auch für dich, Joseph, ungerechter Bruder. Aber ich verzeihe dir, denn ich weiß dich von den Zähnen der Schlange gebissen. Und ich verzeihe auch dir, Simon, der du wankelmütig bist. Meiner Mutter habe ich nichts zu verzeihen, noch hat sie mir etwas zu verzeihen, denn sie richtet mit Gerechtigkeit. Die Welt kann tun, was sie will. Ich tue, was Gott will! Und mit dem Segen des Vaters und meiner Mutter bin ich glücklicher, als wenn mich die ganze Welt auf weltliche Art als ihren König ausrufen würde. Komm, Mutter. Weine nicht! Sie wissen nicht, was sie tun. Verzeihe ihnen.»

«Oh, mein Sohn! Ich weiß. Du weißt. Es gibt nichts weiter hinzuzufügen...»

«Es gibt nichts weiter zu tun, als den Menschen zu sagen: Geht hin in Frieden!»

Und Jesus segnet die Menge und begibt sich dann, an der rechten Hand Maria und an der linken Hand das Kind führend, zur Treppe und steigt als erster hinauf.