11.08.2016

VON DER PFLICHT ZU VERGEBEN

nach Maria Valtorta

Petrus ist nachdenklich geworden. Jesus sieht es und fragt ihn nach dem Grund. Und Petrus erklärt: «Ich denke an die große Aufgabe, zu der wir berufen sind. Ich fürchte mich davor. Ich habe Angst, nicht fähig dazu zu sein.»

«Tatsächlich, Simon des Jonas oder Jakobus des Alphäus oder Philippus und so weiter, ihr wäret nicht fähig dazu. Doch der Priester Petrus, der Priester Jakobus, der Priester Philippus oder der Priester Thomas wird dazu fähig sein, denn er wird zusammen mit der göttlichen Weisheit wirken.»

«Und... wie oft müssen wir unseren Brüdern verzeihen? Wie oft, wenn sie gegen die Priester sündigen, und wie oft, wenn sie sich gegen Gott versündigen? Denn wenn sich nichts ändert, werden sie gegen uns sündigen, wie sie jetzt gegen dich sündigen. Sage mir, ob ich immer verzeihen muss oder nur einige Male. Siebenmal zum Beispiel, oder noch öfter?»

«Ich sage dir, nicht nur siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal, eine Zahl ohne Maß! Denn auch der Vater im Himmel verzeiht euch immer wieder, euch, die ihr vollkommen sein solltet. Und wie er mit euch tut, so sollt auch ihr tun, denn ihr vertretet Gott auf Erden. Hört! Ich will euch ein Gleichnis erzählen, dass allen dienen wird.»

Und Jesus, der von den Aposteln umgeben in einem Buchsbaumrondell gewesen ist, begibt sich nun zu den Jüngern, die sich respektvoll bei einem mit klarem Wasser gefüllten Becken niedergelassen haben. Das Lächeln Jesu ist wie ein Signal, dass er nun reden wird. Während er mit seinen ruhigen, langen Schritten herankommt, mit denen er in kurzer Zeit und ohne Eile einen längeren Weg zurücklegen kann, freuen sie sich wie Kinder, die sich geliebt wissen, und bilden einen Kreis, einen Kranz aufmerksamer Gesichter. Jesus lehnt sich gegen einen hohen Baum und beginnt zu reden.

«Was ich vorher zum Volk gesagt habe, dass soll jetzt für euch vervollständigt und erklärt werden, denn ihr seid die Auserwählten des Volkes. Vom Apostel Simon des Jonas wurde ich gefragt: „Wie oft soll ich verzeihen? Wem? Und warum?“ Ich habe ihm geantwortet, und ich will nun meine Antwort für euch alle wiederholen, da ihr schon jetzt wissen müßt, was gerecht ist.

Hört, warum und wie oft man verzeihen soll. Man muss verzeihen, wie Gott verzeiht, der, wenn jemand auch tausendmal sündigt und es bereut, tausendmal verzeiht; der verzeiht, wenn er nur sieht, dass der Schuldige nicht den Willen zur Sünde hat noch das Verlangen nach dem, was zur Sünde verführt, und dass die Sünde nur die Folge einer menschlichen Schwäche ist. Nur im Fall eines freiwilligen Verharrens in der Sünde kann es für die gegen das Gesetz begangenen Sünden keine Verzeihung geben. Doch soweit euch diese Verfehlungen persönlich treffen und schmerzen, verzeiht! Verzeiht immer dem, der euch Böses zufügt. Verzeiht, damit auch euch verziehen werde; denn auch ihr habt gegen Gott und die Brüder gefehlt. Die Verzeihung öffnet das Reich des Himmels sowohl dem, der Verzeihung erlangt, als auch dem, der verziehen hat. Die Verzeihung gleicht dem, was einst zwischen einem König und seinen Dienern geschah.

Ein König wollte mit seinen Dienern Abrechnung halten. Er rief also einen nach dem anderen zu sich, angefangen bei den Höchstgestellten. Es kam einer, der ihm zehntausend Talente schuldete. Aber der Schuldner konnte den Vorschuß nicht zurückzahlen, den der König ihm gegeben hatte, damit er sich Häuser und Besitz jeder Art beschaffe, denn er hatte aus vielen mehr oder weniger berechtigten Gründen das für diese Zwecke geliehene Geld nicht sorgfältig verwendet. Der König, unwillig über seine Trägheit und Wortbrüchigkeit, befahl, ihn, seine Frau, seine Kinder und alles, was er besaß, zu verkaufen, bis er seine Schuld beglichen hätte. Doch der Diener warf sich dem König zu Füßen und flehte unter Tränen: „Laß mich gehen. Habe noch etwas Geduld, und ich will dir alles zurückgeben, was ich dir schulde, bis zum letzten Denar!“ Der König erbarmte sich dieses verzweifelten Mannes – denn er war ein guter König – und gab nicht nur seinen Bitten nach, sondern erließ ihm schließlich sogar die gesamte Schuld, als er erfuhr, dass der mangelnde Fleiß auch auf Krankheiten zurückzuführen war.

Der Diener ging glücklich von dannen. Beim Hinausgehen stieß er aber auf einen anderen Diener, einen armen Untergebenen, dem er hundert Denare geliehen hatte, die er von den tausend Talenten des Königs genommen hatte. Überzeugt, in der Gunst des Königs zu stehen, glaubte er, dass ihm alles erlaubt sei; und er packte diesen Unglücklichen am Hals und sagte: „Gib mir sofort zurück, was du mir schuldig bist!“ Vergeblich weinte der Mann, warf sich zu Boden und jammerte: „Habe Erbarmen mit mir, der ich so viel Unglück hatte. Habe noch ein wenig Geduld, und ich will dir alles bis zum letzten Pfennig zurückgeben!“ Der erbarmungslose Knecht rief sofort die Soldaten herbei und ließ den Unglücklichen ins Gefängnis werfen, damit er sich entscheide, ob er bezahlen oder die Freiheit oder sogar das Leben verlieren wolle.

Die Angelegenheit kam den Freunden des Unglücklichen zu Ohren. Sie wurden alle traurig und berichteten ihrem Herrn, dem König, davon. Dieser ließ den unbarmherzigen Knecht vor sich führen, blickte ihn streng an und sagte: „Du böser Knecht. Ich habe dir geholfen, damit auch du Barmherzigkeit übest und damit du dir ein Besitztum aufbauen kannst; ich habe dir ferner geholfen, indem ich dir die Schuld nachließ, nachdem du mich so inständig um Geld gebeten hattest. Du hattest mit deinesgleichen kein Mitleid, während ich, der König, dir so viel Mitleid bezeigte. Warum hast du nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe?“ Und er überließ ihn den Gefängniswärtern, damit sie ihn gefangen hielten, bis alles bezahlt wäre, und sagte: „Weil du kein Erbarmen gehabt hast mit einem, der dir nur wenig schuldig war, während du von mir, dem König, so viel Erbarmen erfahren hast, findest du auch jetzt bei mir kein Erbarmen mehr!“

So wird auch mein Vater mit euch verfahren, wenn ihr unbarmherzig gegen die Brüder seid; denn nachdem ihr so viel von Gott erhalten habt, seid ihr ihm mehr schuldig als ein einfacher Gläubiger. Bedenkt, dass ihr mehr als alle anderen die Pflicht habt, ohne Sünde zu sein. Bedenkt, dass Gott euch eine große Summe vorstreckt, aber auch verlangt, dass ihr Rechenschaft darüber ablegt. Denkt daran, dass niemand mehr als ihr Liebe üben und verzeihen können muss.

Seid keine Knechte, die viel für sich haben wollen, aber nichts denen abgeben, die sie darum bitten. Wie ihr tut, so wird auch euch getan werden. Und es wird von euch auch Rechenschaft gefordert über die Taten derjenigen, die durch euer Beispiel zum Guten oder zum Bösen angeleitet worden sind. Oh, wahrlich, wenn ihr andere heiligt, werdet ihr eine große Herrlichkeit im Himmel besitzen! Aber wenn ihr Verderber oder träge im Heiligen seid, werdet ihr hart bestraft werden.

Ich sage es euch noch einmal! Wenn einer von euch sich nicht bereit fühlt, Opfer seiner eigenen Mission zu sein, soll er weggehen, aber nicht gegen sie fehlen. Er lasse es weder an seiner eigenen Ausbildung noch an der der anderen fehlen, wo es sich um wahrhaft schwerwiegende Dinge handelt. Er muss sich Gott zum Freund machen, indem er in seinem Herzen immer Vergebung für die Schwachen hegt. Denn seht, jeder, der dem Nächsten zu verzeihen weiß, wird auch von seinem Vater Verzeihung erlangen.“