29.01.2016

223. ZU MAGDALA IM HAUSE DER MUTTER BENJAMINS

nach Maria Valtorta

Das Wunder muss erst vor kurzem geschehen sein, denn die Apostel reden darüber und die Bewohner des Ortes ebenfalls, sie deuten auf Jesus, der mit ernstem Gesicht geradeaus zum Stadtrand, ins Armenviertel, geht.

Er bleibt vor einem Häuschen stehen, aus dem ein kleiner Junge gelaufen kommt, dem die Mutter folgt. «Frau, darf ich in deinen Garten kommen und dort ein wenig verweilen, bis die schlimmste Hitze vorüber ist?» «Komm herein, Herr, auch in die Küche, wenn du willst. Ich werde dir Wasser und eine Erquickung bringen.» «Bemühe dich nicht. Es genügt mir, ein wenig in diesem ruhigen Garten zu sein.» Doch die Frau möchte Wasser anbieten, dem etwas, ich weiß nicht was, beigemischt wurde. Dann läuft sie ständig im Garten herum, als wolle etwas sagen, hätte aber nicht den Mut dazu. Sie scheint sich mit dem Gemüse zu beschäftigen, doch in Wirklichkeit achtet sie auf den Meister; aber wegen des Kleinen, der nach einem Schmetterling oder sonst einem Insekt hascht und dabei ein lautes Geschrei vollführt, kann sie nicht verstehen, was Jesus sagt. Sie wird ungeduldig und gibt dem Kind einen leichten Klaps, worauf dieses nur noch lauter schreit.

Jesus, der soeben dem Zeloten auf die Frage: «Glaubst du, dass der Vorfall Maria aufgerüttelt hat?» antwortet: «Mehr als es euch scheint», wendet sich um und ruft das Kind zu sich, dass sich auf seinen Knien beruhigt und aufhört zu weinen.

Die Frau ruft den Kleinen zurück: «Benjamin, komm her! Du darfst nicht stören!» Doch Jesus sagt: «Laß ihn nur, laß ihn. Er wird artig sein und dich in Ruhe lassen», und zum Kinde gewandt: «Weine nicht! Deine Mutter hat dir nicht weh getan, sie hat dir nur das Gehorchen beigebracht, oder besser: sie hat versucht, dir Gehorsam beizubringen. Warum hast du so geschrieen, wo sie doch Ruhe haben möchte? Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl und dein Geschrei stört sie.» Das Kind antwortet prompt und mit jener unübertrefflichen Aufrichtigkeit der Kinder, die Erwachsene zur Verzweiflung bringt: «Nein, sie fühlt sich nicht krank, sie wollte nur hören, was du sagst... Sie hat es mir nämlich gesagt. Aber ich, da ich zu dir kommen wollte, habe absichtlich Lärm gemacht, damit du mich beachtest.» Alle lachen, und die Frau wird feuerrot.

«Erröte nicht, Frau, komm zu mir. Du wolltest mich sprechen hören? Warum?» «Weil du der Messias bist. Nur du kannst der Messias sein, da du solche Wunder wirkst ... Ich hätte dir gerne zugehört... Ich gehe nie aus Magdala hinaus, weil ich ... einen schwierigen Mann und fünf Kinder habe. Das kleinste ist vier Monate alt... und hierher kommst du nie.» «Ich bin gekommen, und in dein Haus. Siehst du?» «Darum wollte ich dir gerne zuhören.» «Wo ist dein Mann?» «Auf dem See, Herr. Wenn man nicht fischt, hat man nichts zu essen. Ich habe nur diesen kleinen Garten. Kann der genügen für sieben Personen? Trotzdem verlangt Zachäus, daß...» «Sei geduldig, Frau. Alle haben ihre Last zu tragen.» «O nein, die Schamlosen haben nur das Vergnügen. Hast du das Tun der Schamlosen gesehen? Sie genießen und verursachen anderen Leid. Sie quälen sich nicht ab mit Kindergebären und Arbeit, bis sie der Rücken schmerzt. Sie bekommen keine Blasen von der Hacke und keine zerschundenen Hände vom vielen Waschen. Sie sind schön und frisch. Für sie gilt die über Eva verhängte Strafe nicht. Vielmehr werden wir durch sie bestraft, weil... die Männer... du verstehst mich schon.» «Ich verstehe dich. Doch wisse, auch sie haben ihr schreckliches Kreuz, dass schrecklichste, und ein Kreuz, dass man nicht sieht. Es ist ihr Gewissen, dass sie anklagt; es ist die Welt, die sie verspottet; die Familie, die sie verstößt; und es ist Gott, der sie verflucht. Sie sind nicht glücklich, glaube es mir. Sie quälen sich nicht ab mit Kindergebären und Arbeiten, keine Mühsal macht ihre Hände wund, und trotzdem sind sie zermürbt durch die Scham. Ihr Herz ist eine einzige Wunde. Beneide sie nicht um ihr Aussehen, ihre Frische, ihre vermeintliche Heiterkeit. Sie sind nur der Schleier über dem Ruin, der ihr Gewissen plagt und sie keinen Frieden finden läßt. Beneide nicht ihren Schlaf, du ehrbare Mutter, die du von deinen unschuldigen Kindern träumst... Auf ihren Kissen lastet der Alptraum, und in ihrer Sterbestunde oder in ihrem Alter werden sie einst von Gewissensbissen und Angst heimgesucht werden.» «Das ist wahr... Verzeih... Darf ich hier bleiben?» «Bleibe! Wir werden Benjamin ein schönes Gleichnis erzählen, und die, die keine Kinder mehr sind, werden es auf sich selbst und auf Maria von Magdala anwenden. Hört also!

Ihr zweifelt an der Bekehrung Marias zum Guten und es gibt kein Anzeichen für eine Umkehr. Frech und schamlos, ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Macht bewusst, hat sie es gewagt, die Leute herauszufordern und bis vor das Haus zu kommen, wo man durch ihr Verschulden weint. Auf die Rüge des Petrus hat sie mit Gelächter geantwortet, auf meinen einladenden Blick mit stolzer Unnahbarkeit. Ihr hättet vielleicht gewünscht – die einen aus Liebe zu Lazarus, die anderen aus Liebe zu mir – dass ich direkt zu ihr hingehe, ein langes Gespräch mit ihr führe und sie durch meine Macht bezwinge, um ihr dadurch meine Gewalt als Messias und Erlöser zu beweisen. Nein! Das alles ist nicht nötig. Ich habe dies bereits wegen einer anderen Sünderin vor vielen Monaten gesagt. Die Seelen müssen selbst soweit kommen. Ich gehe vorüber und streue den Samen aus, und ganz im Verborgenen wirkt der Same. Die Seele soll in ihrem Wirken respektiert werden. Wenn der erste Same nicht Wurzel faßt, sät man noch einen... und noch einen, und erst dann gibt man auf, wenn man sichere Beweise für die Nutzlosigkeit des Säens hat. Dazu betet man, denn das Gebet ist wie der Tau aufs Erdreich: er erhält es feucht und dadurch nährstoffreich, und so kann der Same sprießen. Machst du es mit deinem Gemüse nicht ebenso, Frau?

Nun hört das Gleichnis vom Wirken Gottes in den Herzen, um darin das Reich Gottes zu gründen. Jedes Herz ist ein kleines Reich Gottes auf Erden. Später, nach dem Tode, werden sich all diese kleinen Reiche zu einem einzigen vereinigen, zum unermeßlichen, heiligen, ewigen Himmel.

Das Reich Gottes in den Herzen wird vom göttlichen Sämann gegründet. Er kommt auf sein Gut – der Mensch gehört Gott, darum ist am Anfang jeder Mensch sein Eigentum – und streut seinen Samen. Danach geht er auf andere Güter, zu anderen Herzen. Den Tagen folgen die Nächte und den Nächten die Tage. Die Tage bringen Sonne und Regen: hier die Strahlen der göttlichen Liebe und den Strom göttlicher Weisheit, die zur Seele spricht. Die Nächte lassen ihre Sterne leuchten und schenken erholsame Stille: in unserem Fall, göttliche Mahnungen und Stille für die Seelen, um sich zu sammeln und sich zu besinnen.

In dieser ständigen Aufeinanderfolge unmerklicher und kraftvoller Vorsehungen schwillt der Same an, bricht auf, treibt Wurzeln, nistet sich ein, und das junge Pflänzchen beginnt zu sprießen, bringt die ersten Blättchen hervor und wächst heran. All dies geschieht ohne menschliche Hilfe. Spontan bringt die Erde die Pflanze aus dem Samen hervor, und die Pflanze wird kräftig und trägt die aus ihr entstehende Ähre, die immer mehr nach oben strebt, anschwillt, erstarkt, gelb und hart wird, und deren Körner dann die vollkommene Reife erlangen. Da die Zeit der Vollendung für diesen Samen gekommen ist, der sich nicht noch weiter entwickeln könnte, kehrt der Sämann zurück und setzt seine Sichel zur Ernte an.

In den Herzen hat mein Wort dieselbe Wirkung. Ich spreche von den Herzen, die den Samen aufnehmen. Doch nur langsam geht die Entwicklung vor sich, und man muss darauf achten, nichts zur Unzeit zu tun, denn dann würde man alles zerstören. Wie mühsam ist es doch für das kleine Samenkorn, aufzubrechen und sich in der Erde zu verwurzeln. Auch für das harte, widerspenstige Herz bedeutet dies mühevolle Arbeit. Es muss sich erschließen, sich aufwühlen lassen, Neues aufnehmen und dies mühevoll hegen, und schließlich muss sich ein solcher Mensch von allem Prunk und der reizvollen, nutzlosen und übermäßig eleganten Bekleidung von früher lösen und sein Äußeres verändern: Er muss sich nunmehr begnügen, demütig zu arbeiten, ohne bewundert zu werden, um so ganz der Absicht Gottes zu entsprechen. Alle seine Fähigkeiten muss er nützen, um zu wachsen und Ähren hervorzubringen. In Liebe muss man erglühen, um zum Weizen zu werden. Hat man dann einmal die so sehr, sehr leidige Menschenfurcht überwunden, sich abgemüht, gelitten, und seine neue Wesensart sogar liebgewonnen, dann muss man sich in einem Entschluß von erbarmungsloser Härte auch davon lösen. Alles muss man geben, um alles zu besitzen. Von allem muss sich der Mensch entblößen, um einst im Himmel mit der Stola der Heiligen bekleidet zu werden. Das Leben des Sünders, der heilig wird, ist die längste, heldenhafteste und ruhmreichste Schlacht. Ich sage es euch!

Ihr werdet nach dem, was ich euch gesagt habe, einsehen und verstehen, dass mein Verhalten Maria gegenüber richtig ist. Habe ich an dir etwa anders gehandelt, Matthäus?» «Nein, mein Herr.» «Sage mir die Wahrheit: was hat dich mehr überzeugt, meine Geduld oder die bitteren Vorwürfe der Pharisäer?» «Deine Geduld, so wahr ich hier stehe! Die Pharisäer mit ihrer Verachtung und ihren Verwünschungen lösten in mir wiederum nur Verachtung aus, und weil ich sie verachtete, wurde ich noch schlechter als zuvor. Es geschieht folgendes: lebt man in Sünde und wird man als Sünder behandelt, dann verhärtert man sich erst recht. Doch, erhält man statt einer Beleidigung ein Wort der Liebe, ist man darüber so sehr erstaunt, dass man nur noch weinen kann... und wenn man weinen kann, zerspringt der Panzer der Sünde, der das Herz umgab und fällt ab. Entblößt steht man dann vor der Güte Gottes und fleht ihn an um ein neues Kleid – ihn selbst.» «Das hast du gut gesagt. Benjamin, gefällt dir die Geschichte? Ja? Gut so! Und wo ist denn deine Mutter?» Jakobus des Alphäus antwortet: «Sie ist am Ende des Gleichnisses weggegangen und auf der Straße dort davongeeilt.» «Sie wird zum See gehen um zu sehen, ob ihr Mann zurückgekommen ist», sagt Thomas.

«Nein, sie ist zur alten Mutter gegangen, um die Geschwisterchen zu holen. Meine Mutter bringt sie immer dorthin, damit sie arbeiten kann», sagt das Kind, dass sich vertrauensvoll an die Knie Jesu schmiegt.

«Und du bist hier, kleiner Mann? Du musst ein schöner Schlingel sein, wenn sie dich allein bei sich behält!» bemerkt Bartholomäus.

«Ich bin der älteste und helfe ihr...»

«Sich den Himmel zu verdienen, arme Frau! Wie alt bist du?» fragt Petrus.

«In drei Jahren werde ich ein Sohn des Gesetzes sein», sagt der Lausbub stolz.

«Kannst du lesen?» fragt Judas Thaddäus.

«Ja, aber ich komme nur langsam vorwärts... denn der Lehrer stellt mich fast jeden Tag vor die Türe...» «Ich habe es doch gesagt!» sagt Bartholomäus.

«Das kommt daher, dass der Lehrer alt und häßlich ist und immer dieselben Dinge sagt, die zum Einschlafen langweilig sind. Wenn er so wäre, wie er (er deutet auf Jesus), dann wäre ich aufmerksam. Schlägst du die, die schlafen oder spielen?» «Ich schlage niemanden, aber ich sage meinen Schülern: „Seid zu euerem eigenen Besten und aus Liebe zu mir aufmerksam.“», antwortet Jesus.

«Ja, so ist es richtig. Aus Liebe schon, aber nicht aus Angst.» «Aber wenn du brav bist, dann hat dich der Lehrer gern.» «Liebst du denn nur die Artigen? Gerade eben hast du doch gesagt, dass du geduldig mit diesem hier gewesen bist, der nicht gut war...» Die kindliche Logik ist bezwingend.

«Ich bin mit allen gut. Aber wer zum braven Menschen wird, den liebe ich ganz besonders, und mit diesem bin ich sehr, sehr lieb.» Das Kind denkt nach... dann hebt es den Kopf und fragt Matthäus: «Wie hast du es gemacht, gut zu werden?» «Ich habe ihn gern gehabt.» Das Kind denkt wieder nach, dann blickt es auf die Zwölf und sagt zu Jesus: «Sind die hier alle brav?» «Gewiß, dass sind sie.» «Bist du sicher? Manchmal bin ich artig, aber nur, weil ich einen noch größeren Unfug anstellen will.» Alle lachen laut. Auch der Knabe muss mitlachen. Selbst Jesus lacht, drückt den Jungen an sein Herz und küßt ihn.

Das Kind, dass nun bereits mit allen gut Freund ist, möchte spielen und sagt: «Nun will ich dir sagen, wer gut ist», und es beginnt mit seiner Auswahl. Es blickt alle nacheinander an und geht dann geradewegs auf Johannes und Andreas zu, die nebeneinander stehen, und sagt: «Du und du, kommt her.» Dann wählt es die beiden Jakobus und stellt sie zu den ersten beiden, dann auch Judas Thaddäus. Vor dem Zeloten und Bartholomäus bleibt es lange nachdenklich stehen und sagt: «Ihr seid zwar alt, doch ihr seid gut», und gesellt sie zu den anderen. Dann betrachtet es Petrus, der die Prüfung über sich ergehen läßt, indem er ihm zum Spaß böse Blicke zuwirft. Auch er wird für gut befunden. Matthäus und Philippus bestehen die Prüfung ebenfalls. Zu Thomas sagt das Kind: «Du lachst zuviel. Mir ist es ernst. Weißt du nicht, dass mein Lehrer sagt, daß, wer immer lacht, bei der Prüfung dann Fehler macht.» Trotzdem besteht Thomas die Prüfung, wenn auch nicht gerade mit einer guten Note. Dann geht das Kind zu Jesus zurück.

«He, du Spitzbub! Ich bin auch noch da. Ich bin kein Baum. Ich bin jung und schön. Warum prüfst du mich nicht?» fragt Judas Iskariot.

«Weil du mir nicht gefällst. Meine Mutter sagt, was man nicht mag, dass soll man nicht anfassen. Man läßt es auf dem Tisch, damit es die anderen nehmen können, die es vielleicht gut finden. Sie sagt auch, daß, wenn man etwas angeboten bekommt, dass man nicht mag, dann soll man nicht sagen: „Das schmeckt mir nicht“ sondern man sagt: „Danke, ich habe keinen Hunger.“ Ich habe kein Verlangen nach dir.» «Aber weshalb? Schau, wenn du sagst, dass ich gut bin, dann gebe ich dir diese Münze.» «Was soll ich damit? Was kaufe ich mir mit einer Lüge? Die Mutter sagt, dass das Geld, dass man durch Betrug gewinnt, zu Stroh wird. Einmal habe ich mir von der alten Mutter mit einer Lüge eine Didrachme erschwindelt, um mir Honigküchlein zu kaufen, und in der Nacht ist sie zu Stroh geworden. Ich hatte sie in das Loch unter der Türe gesteckt, um sie anderentags zu holen, und habe in der Frühe ein Häuflein Stroh vorgefunden.» «Aber warum hältst du mich nicht für gut? Was habe ich denn an mir? Einen Klumpfuß? Oder bin ich häßlich?» «Nein... aber du machst mir Angst.» «Aber warum denn?» fragt Judas Iskariot näherkommend.

«Ich weiß nicht, laß mich in Ruhe. Rühre mich nicht an, sonst kratze ich dich.» «Was für ein Igel. Er ist verrückt», Judas hat ein böses Lachen.

«Ich bin nicht verrückt, aber du bist böse», und das Kind flüchtet zu Jesus, der es stumm streichelt.

Die Apostel scherzen über den Vorfall, der wenig schmeichelhaft für Judas Iskariot ist. Nun kommt die Frau mit einem Dutzend Leuten zurück, und nach und nach kommen noch mehr. Es sind im ganzen ungefähr fünfzig Personen, alles arme Leute.

«Würdest du zu ihnen sprechen? Wenigstens kurz. Dies ist die Mutter meines Mannes, dies sind meine Kinder, und der Mann dort ist mein Gatte. Nur ein Wort, Herr», bettelt die Frau.

«Um dir für deine Gastfreundschaft zu danken, werde ich es tun.» Die Frau geht ins Haus, wo der Säugling nach ihr schreit. Dann setzt sie sich auf die Schwelle und reicht ihm die Brust.

«Hört, hier auf meinen Knien habe ich ein Kind, dass sehr weise gesprochen hat. Es hat gesagt, dass alles, was man durch Betrug erworben hat, zu Stroh wird. Seine Mutter hat es diese Wahrheit gelehrt. Es ist kein Märchen, sondern ewige Wahrheit. Niemals kann etwas gut gelingen, dass ohne Ehrlichkeit getan wird, denn die Lüge im Sprechen, Handeln, in der Religion, ist stets ein Zeichen des Bündnisses mit Satan, dem Meister der Lüge. Glaubt nicht, dass die Werke, durch die man das Himmelreich erwirbt, Werke von überwältigender Auffälligkeit seien. Es sind alltägliche Werke, die beständig und im Geist übernatürlicher Liebe vollbracht werden. Die Liebe ist der Same der Pflanze, die in euch keimt und zum Himmel wächst, und in deren Schatten alle übrigen Tugenden gedeihen. Ich vergleiche die Liebe mit einem winzigkleinen Senfkorn. Wie gering ist es! Eines der kleinsten Samenkörner, die der Mensch aussät. Und doch, seht, wie stark die Pflanze ist, wenn sie ihre volle Größe erreicht hat, wie dicht belaubt und fruchtbar. Nicht hundert für hundert, sondern hundert für eine Frucht gibt sie. Es ist das kleinste unter den Samenkörnern, aber das fleißigste bei seiner Arbeit. Und wieviel Nutzen bringt es!

So ist die Liebe. Wenn ihr in eurer Brust einen kleinen Samen der Liebe für euren heiligsten Gott und euren Nächsten bergt und unter der Führung der Liebe eure Werke vollbringt, dann werdet ihr gegen keine Vorschrift der Zehn Gebote verstoßen. Ihr werdet Gott nicht mit einer falschen Religion, die sich in leeren Andachtsübungen erschöpft, belügen. Ihr werdet nicht als Kinder eure Eltern durch Undank kränken und nicht als ehebrecherische oder auch nur zu anspruchsvolle Gatten euren Partner um die Liebe betrügen. Ihr werdet in Geschäften euren Nächsten nicht hintergehen, ihn im täglichen Leben nicht belügen und gegen euren Feind nicht gewaltsam vorgehen. Schaut, wie viele Vögelchen sich zu dieser warmen Mittagszeit ins Gebüsch dieses Gartens flüchten. Bald wird das kleine Senfpflänzchen dort eine wahre Zuflucht für die Spatzen sein. All diese Vögel werden Schutz und Schatten in den dichtbelaubten schönen Bäumen finden, und die Jungen werden darin fliegen lernen und dabei die Äste und Zweige als Leiter und Auffangnetz gebrauchen, um beim Fliegen nicht zu fallen. So verhält es sich mit der Liebe als Grundlage des Reiches Gottes.

Liebt, und ihr werdet geliebt werden. Liebt, und ihr werdet nachsichtig miteinander sein. Liebt, und ihr werdet nicht grausam gegen eure Untergebenen sein und nicht mehr als erlaubt von ihnen verlangen. Liebt und seid ehrlich, um den Frieden und die Seligkeit des Himmels zu verdienen. Sonst wird sich, wie es Benjamin gesagt hat, jedes eurer Werke, dass gegen die Liebe und die Wahrheit verstößt, in Stroh für euer höllisches Lager verwandelt werden. Ich füge nichts anderes hinzu. Ich sage nur: Haltet euch das große Gebot der Liebe vor Augen und seid treu dem Gott der Wahrheit und der Wahrheit in jedem Wort, in jedem Werk und in eurer ganzen Gesinnung, denn die Wahrheit ist die Tochter Gottes. Sie ist ein fortwährendes Werk der Vervollkommnung für euch, so wie das Samenkorn zu seiner Vollendung heranwächst; es ist ein Wirken in der Stille, in Demut und Geduld. Seid versichert, dass Gott euer Ringen sieht und dass eine besiegte Selbstsucht, ein unterdrücktes und nicht ausgesprochenes grobes Wort, ein nicht geltend gemachter Anspruch von ihm eine größere Belohnung einbringt als die Vernichtung eines Feindes durch Waffen in der Schlacht. Das Himmelreich, dass ihr einst besitzen werdet, wenn ihr als Gerechte lebt, baut man mit den kleinen täglichen Dingen: Mit Güte, Sittsamkeit, Geduld, mit Sichbegnügen mit dem, was man hat, mit gegenseitigem Verständnis und mit Liebe, Liebe, Liebe.

Seid gut und lebt in Frieden miteinander. Murrt nicht und richtet nicht. Dann wird Gott mit euch sein. Ich gebe euch meinen Frieden als Segen und zum Dank für den Glauben, den ihr mir bezeugt.» Dann wendet sich Jesus an die Frau und sagt: «Gott segne dich ganz besonders, denn du bist eine gerechte Frau und eine gerechte Mutter. Harre aus in der Tugend. Leb wohl, Benjamin! Liebe die Wahrheit immer mehr und gehorche deiner Mutter. Ich segne dich, deine Geschwisterchen und deine Mutter.» Ein Mann kommt nach vorne. Ganz verlegen stottert er:

«Ich bin ganz gerührt über das, was du von meiner Frau sagst... Ich wußte nicht...» «Hast du denn keine Augen und keinen Verstand?» «Doch, die habe ich.» «Warum gebrauchst du sie nicht? Soll ich sie dir von den Nebeln befreien?» «Du hast es bereits getan, Herr. Aber ich liebe sie, weißt du? Es ist nur, weil... weil man sich daran gewöhnt... und... und...» «So glaubt man sich im Recht und mutet dem anderen zu viel zu, weil dieser gütiger ist als wir... Tue es nicht mehr! Du bist bei deiner Arbeit ständig in Gefahr. Fürchte die Gewitter nicht, wenn Gott mit dir ist; aber wenn Ungerechtigkeit in dir ist, dann hast du Grund zur Angst. Hast du verstanden?» «Mehr als du denkst. Aber ich will versuchen, dir zu gehorchen... Ich wußte nicht...», und er blickt seine Frau an, als sähe er sie zum erstenmal.

Jesus segnet und geht auf das Sträßlein; dann nimmt er den Weg wieder auf, der in Richtung der Felder führt.