09.02.2016

ZU NAIM IM HAUS DES AUFERWECKTEN DANIEL

nach Maria Valtorta

Die Stadt Naim feiert ein großes Fest. Sie hat Jesus zu Gast. Zum ersten Mal nach der Auferweckung des Jünglings Daniel.

Von einer großen Menschenmenge umgeben, geht Jesus segnend durch die Stadt. Zu den Bewohnern von Naim haben sich auch Bewohner anderer Ortschaften gesellt, besonders aus Kapharnaum, wo sie ihn gesucht haben und von wo sie nach Kana und von dort nach Naim geschickt worden sind. Ich habe den Eindruck, dass Jesus, der nun schon viele Jünger hat, etwas wie ein Informationsnetz gebildet hat, damit Pilger, die ihn suchen, ihn finden können, obwohl er täglich einige Meilen zurücklegt, sofern es die Jahreszeit und die kurzen Tage erlauben. Unter denen, die gekommen sind, ihn zu suchen, fehlt es auch nicht an Schriftgelehrten und Pharisäern, die nach außen hin ergeben scheinen...

Jesus ist Gast im Haus des auferweckten Jünglings, wo auch die Vornehmen des Ortes zusammengekommen sind. Als die Mutter Daniels die Schriftgelehrten und Pharisäer erblickt – sieben an der Zahl, wie die sieben Hauptsünden – lädt sie sie demutsvoll ein und entschuldigt sich, ihnen kein würdigeres Haus anbieten zu können.

«Der Meister ist da. Der Meister ist da, Frau! Das macht sogar eine Höhle wertvoll. Doch dein Haus ist weit mehr als ein Höhle, und wir betreten es mit den Worten: „Der Friede sei mit dir und mit deinem Haus!“» Tatsächlich hat die Frau, obwohl sie nicht reich ist, ihr Möglichstes getan, um Jesus mit Ehren zu empfangen. gewiss sind in gemeinsamer Anstrengung alle Reichtümer von Naim aufgeboten worden, um Haus und Tafel zu schmücken. Die jeweiligen Eigentümer beäugen aus allen möglichen Ecken die Gesellschaft, die sich durch den Korridor am Eingang zu den beiden zur Straße hin gelegenen Räumen begibt, in denen die Herrin des Hauses die Tische gedeckt hat. Vielleicht haben die Leute, die Decken, Geschirr und Sitze geliehen und sich zum Dienst an den Kochstellen bereiterklärt haben, nur eines verlangt: den Meister aus der Nähe sehen und dort atmen zu dürfen, wo er atmet. Nun zeigen sie sich da und dort, rot, mit Mehl und Asche bestäubt oder mit tropfenden Händen, entsprechend ihren Obliegenheiten in der Küche. Sie spähen, erhaschen sich ihren Anteil an göttlichen Blicken und Worten, trinken den süßen Segen und die sanfte Gestalt mit ihren Augen und Ohren und kehren noch röter zu ihren Feuerstellen, Schüsseln und Wasserbecken zurück: glücklich!

Ganz außer sich vor Freude ist jene, die zusammen mit der Hausmutter den angesehenen Gästen die Wasserbecken reicht. Ein junges Mädchen mit braunen Haaren, dunklen Augen und rosigen Wangen, die noch roter werden, als die Hausfrau Jesus darauf aufmerksam macht, dass sie die Braut ihres Sohnes ist und dass die Hochzeit bald stattfinden wird. «Wir haben auf deine Ankunft gewartet, damit das ganze Haus von dir gesegnet werde. Segne auch sie, auf dass sie eine gute Ehefrau in diesem Haus sei.» Jesus betrachtet sie, und da die Braut sich vor ihm verneigt, legt er ihr die Hände auf und sagt: «Mögen in dir die Tugenden Saras, Rebekkas und Rachels wiederaufblühen und mögen aus dir wahre Söhne Gottes hervorgehen, zu seiner Ehre und zur Freude dieses Hauses!» Nun haben Jesus und die Vornehmen sich gereinigt und gehen mit dem jungen Hausherrn in den Speisesaal, während die Apostel mit anderen, weniger einflußreichen Männern von Naim das gegenüberliegende Zimmer betreten, und das Mahl wird eingenommen.

Ich entnehme den Gesprächen, dass Jesus vor Beginn der Vision in Naim gepredigt und geheilt hat. Doch die Pharisäer und Schriftgelehrten kümmern sich wenig darum, bestürmen aber die Leute von Naim mit Fragen, um Einzelheiten über die Krankheit Daniels zu erfahren; sie wollen wissen, wie viele Stunden zwischen dem Tod und der Auferstehung verstrichen sind, ob er schon ganz einbalsamiert war usw., usw. Jesus entzieht sich all diesen Fragen und spricht mit dem Auferstandenen, der sich nun wohl fühlt und mit einem beneidenswerten Appetit ißt.

Aber ein Pharisäer ruft Jesus, um ihn zu fragen, ob er von der Krankheit Daniels wusste.

«Ich kam zufällig von Endor, weil ich Judas von Kerioth zufriedenstellen wollte, wie ich Johannes des Zebedäus zufriedengestellt hatte. Ich wußte nicht, dass wir nach Naim kommen würden, als ich den Weg der österlichen Pilgerreise aufgenommen hatte», antwortet Jesus.

«So! Dann bist du also nicht eigens nach Endor gegangen?» fragt ein Schriftgelehrter erstaunt.

«Nein, ich hatte nicht die geringste Absicht, dorthin zu gehen.» «Warum bist du dann doch hingegangen?» «Ich habe es schon gesagt: Weil Judas des Simon hingehen wollte.» «Wozu diese Laune?» « Er wollte die Höhle der Zauberin sehen.» «Vielleicht hattest du darüber gesprochen...» «Nie! Ich hatte keinen Grund dazu.» «Ich meine... vielleicht hast du mit jener Episode andere Zaubereien erklärt, um deine Jünger einzuweihen...» «In was? Um zur Heiligkeit anzuleiten, braucht es keine Pilgerfahrten. Eine Zelle oder eine Wüste, eine Bergspitze oder ein einsames Haus dienen diesem Zweck ebensogut. Es genügt, dass der Lehrmeister streng und heilig ist und der Schüler den Willen hat, sich zu heiligen. Ich lehre dies und nichts anderes!» «Aber die Wunder, die jetzt auch deine Jünger wirken, was sind sie anderes als Zauberei und...» «Der Wille Gottes, dies allein! Je heiliger sie werden, desto mehr Wunder werden sie wirken. Mit Gebet, Opfer und ihrem Gehorsam Gott gegenüber. Mit nichts anderem!» «Bist du dessen sicher?» fragt ein Schriftgelehrter, der sein Kinn in die Hand stützt und von unten zu Jesus hinaufschaut. Sein Ton ist spöttisch und auch mitleidig.

«Ich habe ihnen diese Waffen und diese Lehren gegeben. Sollte dann unter ihnen einer sein – und es gibt ihrer viele – der sich aus Hochmut oder aus anderen Gründen mit unwürdigen Handlungen abgibt, so war nicht ich es, der ihm das geraten hat. Ich kann beten, um zu versuchen, den Schuldigen zu bessern. Ich kann mir harte Bußübungen auferlegen, um von Gott eine besondere Erleuchtung für ihn zu erlangen, auf dass er seinen Irrtum einsehe. Ich kann mich zu seinen Füßen niederwerfen, um ihn mit meiner ganzen Liebe als Bruder, Meister und Freund anzuflehen, von der Sünde abzulassen; das würde ich nicht als Erniedrigung betrachten, denn der Wert einer Seele ist so groß, dass es sich lohnt, jede Verdemütigung auf sich zu nehmen, um diese Seele zu retten. Doch mehr kann ich nicht tun. Wenn er trotzdem in seiner Sünde verharrt, so werden dem verratenen und unverstandenen Meister und Freund Tränen und Blut aus den Augen und dem Herzen fließen.» Welche Güte und welche Trauer sind in der Stimme und im ganzen Aussehen Jesu zu erkennen!

Schriftgelehrte und Pharisäer schauen sich gegenseitig an. Es ist ein Spiel mit Blicken. Doch sie sagen nichts weiter. Sie wenden sich nun an den jungen Daniel und fragen ihn, ob er wisse, was der Tod sei. Sie wollen wissen, was er gefühlt hat, als er ins Leben zurückgekehrt ist, und was er in der Zeit zwischen Tod und Leben gesehen hat.

«Ich weiß, dass ich sterbenskrank war und den Todeskampf durchgemacht habe. Oh, es war schrecklich! Erinnert mich nicht mehr daran! ... und doch wird der Tag kommen, da ich ihn wiederum durchstehen muss! Oh, Meister! ...» Er schaut ihn erschrocken an und wird bleich bei dem Gedanken, dass er noch einmal wird sterben müssen.

Jesus tröstet ihn sanft und sagt: «Der Tod ist an sich schon eine Sühne. Du wirst, wenn du ein zweites Mal stirbst, vollständig rein von jedem Makel sein und dich sofort des Himmels erfreuen. Aber dieser Gedanke soll dir helfen, als Heiliger zu leben, und es dürfen bei dir nur unfreiwillige und leichte Sünden vorkommen.» Die Pharisäer gehen wieder zum Angriff über: «Aber was hast du empfunden, als du ins Leben zurückgekehrt bist?» «Nichts. Ich fühlte mich lebendig und gesund, so als ob ich aus einem langen, schweren Schlafe erwacht sei.» «Aber hast du dich daran erinnert, dass du tot gewesen bist?» «Ich habe mich erinnert, dass ich schwer krank gewesen und im Todeskampf gelegen bin, dass ist alles.» «Erinnerst du dich an die andere Welt?» «Nein! Da ist ein schwarzes Loch, eine Lücke in meinem Leben... Nichts...» «Dann gibt es deiner Meinung nach also keinen Limbus, kein Fegefeuer, keine Hölle?» «Wer sagt, dass es sie nicht gibt? gewiss gibt es sie, doch erinnere ich mich nicht daran.» «Aber bist du sicher, dass du tot gewesen bist?» Da fahren die von Naim in die Höhe: «Ob er tot gewesen ist? Was wollt ihr denn noch? Als wir ihn auf die Bahre legten, fing er schon an zu riechen. Mit all dem Balsam und den Binden wäre auch ein Riese gestorben.» «Aber du erinnerst dich nicht daran, tot gewesen zu sein?» «Ich habe euch schon gesagt, nein!» Der Jüngling wird ungeduldig und fügt hinzu: «Was wollt ihr denn mit diesen langen Befragungen erreichen? Glaubt ihr vielleicht, dass das ganze Dorf mich für tot hielt, einschließlich meiner Mutter, einschließlich meiner Braut, die vor Schmerz sterbenskrank geworden war, einschließlich meiner selbst, der ich gebunden und einbalsamiert war, während es sich in Wirklichkeit nur um Schein handelte? Was glaubt ihr denn, dass in Naim nur Kinder oder zum Scherzen aufgelegte Betrunkene sind? Meine Mutter hat in wenigen Stunden weißes Haar bekommen. Meine Braut musste gepflegt werden, denn Schmerz und Freude hatten sie beinahe wahnsinnig gemacht. Ihr habt noch Zweifel? Wozu sollten wir das alles aufgeführt haben?» «Wozu? Das ist wahr! Wozu sollten wir es getan haben?» fragen die Leute von Naim.

Jesus sagt nichts. Er spielt wie geistesabwesend mit der Tischdecke. Die Pharisäer wissen nicht, was sie sagen sollen... Aber Jesus öffnet unvermutet den Mund, als die Unterhaltung ins Stocken gerät, und sagt «Der Grund ist dieser (und er deutet auf die Schriftgelehrten und Pharisäer): Sie wollen feststellen, dass deine Auferweckung nichts anderes gewesen ist als ein abgekartetes Spiel, um mein Ansehen bei den Menschen zu vergrößern. Ich, der Erfinder, und ihr, die Komplizen, um Gott und die Menschen zu betrügen. Nein, ich überlasse diese Betrügereien den Unwürdigen. Ich brauche weder Hexereien noch Kniffe, weder Spielereien noch Komplotte, um das zu sein, was ich bin. Warum wollt ihr Gott die Macht absprechen, einem Körper die Seele zurückzugeben? Wenn er sie gibt, wenn sich das Fleisch bildet, und er die Seelen von Fall zu Fall erschafft, kann er sie dann nicht auch zurückgeben, auf dass durch diese Seele, die durch das Gebet ihres Messias zum Fleisch zurückkehrte, viele Menschen angespornt werden, die Wahrheit zu suchen? Könnt ihr Gott die Macht zum Wunder absprechen? Warum wollt ihr ihm das verbieten?» «Bist du Gott?» «Ich bin, der ich bin. Meine Wunder und meine Lehre bezeugen, wer ich bin!» «Aber warum erinnert sich dieser nicht, während die beschworenen Geister wissen, was das Jenseits ist?» «Weil diese Seele, die schon durch die Buße eines ersten Todes geheiligt ist, die Wahrheit spricht, während das, was auf die Lippen der Totenbeschwörer kommt, nicht Wahrheit ist.» «Aber Samuel ...» «Samuel kam auf Befehl Gottes, nicht auf Befehl der Hexe, um dem treulosen Gesetzesbrecher die Rache des Herrn zu verkünden, der seiner nicht spotten läßt.» «Warum tun es also deine Jünger?» Die hämische Stimme eines Pharisäers, der an seiner empfindlichsten Stelle getroffen ist, weckt die Aufmerksamkeit der Apostel, die sich im gegenüberliegenden Raum befinden – die beiden Räume sind nur durch einen etwas mehr als einen Meter breiten Korridor voneinander getrennt, ohne Türen oder schwere Vorhänge – und sie gehen geräuschlos in den Korridor und hören zu.

«Inwiefern tun sie das? Erkläre es mir, und wenn deine Anklage der Wahrheit entsprechen sollte, dann werde ich sie auffordern, nicht mehr gegen das Gesetz zu verstoßen.» «Inwiefern sie das tun? Das weiß ich, und mit mir viele andere. Aber du, der du die Toten erweckst und behauptest, mehr als ein Prophet zu sein, entdecke es selbst. Wir werden es dir nicht sagen. Du hast übrigens Augen, um noch viele andere Dinge zu sehen, die von deinen Jüngern getan werden, wenn es nicht erlaubt ist, und nicht getan werden, wenn sie getan werden sollten, und du kümmerst dich nicht darum.» «Wollt ihr mir einige nennen?» «Warum halten sich deine Jünger nicht an die Bräuche ihrer Ahnen? Wir haben sie heute beobachtet. Gerade heute! Noch vor einer Stunde! Sie sind in ihren Speisesaal eingetreten und haben sich vorher nicht die Hände gewaschen!» Wenn die Pharisäer gesagt hätten: «Sie haben vorhin einige Bürger erdrosselt», hätten sie keinen entsetzteren Ton anschlagen können.

«Ihr habt sie beobachtet, ja. Es gibt viele Dinge zu sehen, schöne und gute Dinge, und wir wollen den Herrn preisen, dass er uns das Leben geschenkt hat, damit wir sie sehen können, und dass er sie erschaffen und erlaubt hat. Ihr aber betrachtet diese Dinge nicht, und mit euch viele andere. Ihr verliert vielmehr eure Zeit und euren Frieden damit, nach schlechten Dingen zu streben.

Ihr gleicht Schakalen, mehr noch: Hyänen, die den Spuren der Verwesung folgen und die Wellen der Wohlgerüche verachten, die der Wind von den duftenden Gärten herweht. Die Hyänen lieben weder Lilien noch Rosen, Jasmin, Kampfer, Zimt oder Nelken. Für sie haben diese abstoßende Gerüche. Doch der Gestank eines verwesenden Körpers im Grunde einer Schlucht, am Rand einer Straße unter dem Dornengestrüpp, wohin der Mörder ihn geworfen hat, oder an einem verlassenen Strand, wohin ihn die Sturmflut geschwemmt hat: der Gestank dieses aufgeblähten, violetten, aufgeplatzten, schrecklichen Wesens ist für die Hyänen Wohlgeruch. Sie wittern im Abendwind, der alle Gerüche mit sich trägt, welche die Sonne im Lauf des Tages hat aufsteigen lassen, diesen unbestimmten, einladenden Geruch, und nachdem sie ihn entdeckt und die Richtung festgestellt haben, aus der er kommt, eilen sie mit erhobener Schnauze davon. Mit zitternden Lefzen und entblößten Zähnen, die ihrer Fratze den Ausdruck eines hysterischen Grinsens geben, laufen sie auf den Ort der Verwesung zu. Ob es nun der Kadaver eines Menschen, eines Tieres oder einer von einem Bauern erschlagenen Natter ist, ob es ein von der Hausfrau getöteter Marder oder einfach eine Maus ist, es schmeckt, es schmeckt, es schmeckt! In diesen abstoßenden Gestank versenkt die Hyäne ihre Zähne und schmaust und leckt sich die Lippen...

Menschen, die sich Tag für Tag heiligen? Das ist uninteressant! Aber wenn ein einziger etwas Böses tut oder mehrere nicht ein göttliches Gesetz verletzen, sondern nur menschliche Handlungen unterlassen – nennt sie Bräuche, Gebote oder wie ihr wollt, es handelt sich immer um menschliche Dinge – dann geht man hin und bemerkt es. Man geht auch hinter einem Verdacht her... um sich zu ergötzen, wenn der Verdacht sich bestätigt.

Nun antwortet, antwortet, ihr, die ihr gekommen seid, aber nicht aus Liebe, nicht aus Glauben, nicht aus Redlichkeit, sondern mit böswilliger Absicht, antwortet: warum verletzt ihr das Gebot Gottes wegen einem von euren Bräuchen? Wollt ihr mir vielleicht sagen, dass ein Brauch mehr ist als ein Gebot Gottes? Und doch hat Gott gesagt: „Ehre den Vater und die Mutter, und wer Vater oder Mutter verflucht, lädt die Schuld eines Mörders auf sich.“ Ihr hingegen sagt: „Wer immer zu seinem Vater oder zu seiner Mutter sagt: 'Was ihr von mir fordert, ist Korban (heilige Sache)', der braucht seine Habe nicht mehr für Vater und Mutter zu verwenden.“ Somit habt ihr durch euren Brauch das Gebot Gottes aufgehoben.

Ihr Heuchler! Richtig hat der Prophet Isaias von euch gesagt: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, doch sein Herz ist fern von mir; daher ehrt es mich vergeblich, weil es menschliche Lehren und Gebote lehrt.“

Während ihr die Gebote Gottes vernachlässigt, haltet ihr euch an menschliche Bräuche, an Waschungen der Krüge und Kelche, der Teller und Hände und an ähnliche Dinge. Während ihr Undankbarkeit und Geiz eines Sohnes rechtfertigt, indem ihr ihm unter dem Vorwand einer Opfergabe die Möglichkeit gebt, denen, die ihn gezeugt haben und nun einer Hilfe bedürfen, dass Brot zu verweigern, regt ihr euch auf, wenn einer sich nicht die Hände wäscht. Ihr verdreht und verletzt das Wort Gottes, um Worten zu gehorchen, die ihr selbst geprägt habt und die von euch zum Gebot erhoben worden sind. Ihr erklärt euch damit für gerechter. als Gott. Ihr maßt euch das Recht an, Gesetze zu erlassen, während Gott allein der Gesetzgeber seines Volkes ist. Ihr...» und er würde fortfahren, doch die feindliche Gruppe verläßt das Haus unter einem Hagel von Vorwürfen; sie stößt mit den Aposteln und den Hausbewohnern, den Gästen und den Helferinnen der Hausfrau zusammen, die sich, angezogen vom hellen Klang der Stimme Jesu, im Korridor versammelt haben.

Jesus, der aufgestanden war, setzt sich wieder, fordert alle auf einzutreten und sagt: «Hört alle und vernehmt diese Wahrheit. Es gibt nichts außerhalb des Menschen, was ihn, wenn es in ihn eindringt, verunreinigen könnte. Was vom Menschen ausgeht ist es, was verunreinigt. Wer Ohren hat zu hören, der höre, nütze seinen Verstand, um zu begreifen, und seinen Willen, um zu verwirklichen. Nun laßt uns gehen. Ihr von Naim, verharrt im Guten, und mein Friede sei immer bei euch!» Er erhebt sich, grüßt im besonderen die Besitzer des Hauses und geht durch den Korridor hinaus, wo er den befreundeten Frauen begegnet , die ihn von einer Ecke her bewundernd ansehen. Er begibt sich zu ihnen und sagt: «Der Friede sei auch mit euch! Der Himmel vergelte euch, dass ihr mir mit einer Liebe entgegengekommen seid, die mich den mütterlichen Tisch nicht vermissen ließ. Ich habe eure mütterliche Liebe in jedem Bissen Brot, im Braten, in der Süße des Honigs und im kühlen, duftenden Wein gefühlt. Bleibet mir immer wohlgesinnt, ihr guten Frauen von Naim. Doch ein anderes Mal macht euch nicht so viel Mühe meinetwegen. Es genügen Brot und eine Handvoll Oliven, gewürzt mit eurem mütterlichen Lächeln und eurem ehrlichen und guten Blick. Seid glücklich in euren Häusern, denn die Dankbarkeit des Verfolgten ist über euch, und er geht von dannen, getröstet durch eure Liebe.» Die Frauen, glücklich, wenn auch weinend, knien alle nieder, und Jesus segnet im Vorübergehen eine nach der anderen, indem er ihre weißen oder schwarzen Haare mit der Hand berührt. Dann geht er hinaus und setzt seinen Weg fort...

Die ersten Schatten des Abends brechen herein und verbergen die Blässe Jesu, der über zu viele Dinge verbittert ist.

13. Oktober 1945:

Gestern abend, als ich versuchte, zu ruhen und zu schlafen und alle bereits schliefen, erschien mir Jesus, wie er mir immer erscheint, in einem weißen Wollgewand, Er hatte in der Rechten einen hohen, ziemlich schmalen Metallkelch. Er stellte sich an die rechte Seite des Bettes und lächelte, aber traurig. Doch sein Lächeln ermutigte mich, denn ich erkannte, dass er nicht meinetwegen traurig war, sondern dass er zu mir kam, um Erleichterung zu finden. Er legte seine linke Hand auf meine linke Schulter und zog mich näher an sich, während er mit der Rechten den Kelch an meine Lippen setzte und sagte: «Trinke!» Der Kelch war mit einer Flüssigkeit gefüllt, die klares Wasser zu sein schien. Ich sah es im Augenblick, da Jesus ihn mir reichte und mich zu trinken zwang. Ich trank.

Welche Bitterkeit! Oh, es war nicht der betäubende Kelch des Gründonnerstags, gefüllt mit dem lebendigen Blut meines Herrn! Dem süßen sättigenden Blut, von dem ich niemals meine Lippen lösen möchte...

Das Wasser war so bitter, wie kein Medikament es sein könnte. Es brannte in der Kehle, im Magen, schüttelte mich vor Abscheu, ließ Tränen in meine Augen steigen und brannte weiter wie eine ätzende Säure. Jesus ließ mich nur einen Schluck trinken... dann stellte er den Kelch beiseite und erklärte: «Dies ist der Kelch, den ich im Ölgarten getrunken habe. Aber ich habe ihn ganz ausgetrunken, bis zum letzten Tropfen, und dieser ist noch bitterer. Das ist der Kelch, den die Sünden der Menschen täglich füllen und zum Himmel reichen, damit ich ihn trinke. Aber ich kann nur noch unendliche Liebe trinken, und daher biete ich ihn den großmütigen, den auserwählten Seelen an. Danke für diesen Schluck! Nun will ich zu anderen treuen Seelen gehen. Ich segne dich durch den Vater, mich und die ewige Liebe.» Dann ging er weg und ließ mich zurück, Mund und Magen vom Gift verbrannt, die Seele aber voll des Friedens.